Urban Farming boomt mit Hydroponik und Aquaponik

In Paris hat im Sommer 2020 mit 14.000 Quadratmetern die weltweit größte Dachfarm für Obst und Gemüse eröffnet. Geht es nach dem Initiator Pascal Hardy, Gründer des verantwortlichen Urban Farming-Unternehmens Agripolis, soll der urbane Bauernhof ein Vorzeigemodell für nachhaltige Produktion sein, wie er in einem Interview mit „The Guardian“ sagte. Biologische Landwirtschaft, frei von Pestiziden, mit Ernteerträgen von 1.000 Kilogramm Obst und Gemüse pro Tag in der Hochsaison. Die Produkte werden verkauft, an Besucher vor Ort und über kurze Wege an nahegelegene Supermärkte, Shops und Hotels.

In London geht es in die andere Richtung: 33 Meter unter Normalnull liegt die weltweit erste unterirdische Farm. Das Unternehmen „Growing Underground“ hat hier Pionierarbeit geleistet und in zwei ehemaligen, tunnelförmigen Luftschutzbunkern aus dem 2. Weltkrieg völlig ohne Tageslicht vertikale Farmen angelegt. Hier werden Kräuter und Salate angebaut und an Supermärkte und Restaurants verkauft.

Paris und London stehen hier stellvertretend für immer mehr Initiativen auf der ganzen Welt die zeigen: Landwirtschaft im großen Maßstab in der Stadt ist machbar und vor allem ist sie mittlerweile politisch und zivilgesellschaftlich auch gewollt. Denn hinter dem Boom stecken der Wunsch und die Notwendigkeit, gleich mehrere Probleme zu lösen, mit denen wir künftig konfrontiert werden. Die Zahl der Weltbevölkerung steigt rasant und damit wachsen die Städte und städtischen Räume, das gilt auch für Europa. Die Ernteerträge auf den Feldern nehmen ab. Dafür sind vor allem ausgelaugte Böden und Wetteränderungen verantwortlich. Zu trocken, zu nass, zu heiß. Auf alle Fälle: zu extrem. Außerdem konkurrieren die Anbauflächen von Gemüse und Salat mit denen für Nutzpflanzen wie Mais oder Raps als Alternative zu fossilen Energieträgern. Die Transporte von Nahrung in die Städte sind aufwändig, CO2-intensiv und teuer.

Aber: Zukunftssichere, resiliente Städte müssen ein gesundes Leben in der Stadt ermöglichen und die Nahrungsmittelversorgung für alle Bewohner*innen sicherstellen, zusätzlich Müll und Luftverschmutzung mindern oder sogar vermeiden. Jede Lösung, die Produktion von Lebensmitteln mit dem Ort des Verbrauchs zusammenzubringen, ist deswegen willkommen. Urban Farming könnte so eine Lösung sein. Liegt die Zukunft der Landwirtschaft also in den Städten?

Selbstversorgung in der Stadt

Das Konzept der urbanen Landwirtschaft ist nicht grundlegend neu. Selbstversorgung in der Stadt spielte auch in früheren Jahrhunderten eine Rolle. Zum Ende des 19. Jahrhunderts schwappte die erste Welle der Industrialisierung in die europäischen Städte. Der enge Raum wurde verteilt. Betriebe für die Produktion, Kultur, Geschäfte, Transport, alles und vor allem alle mussten in die Stadt passen – auch die wachsende Schicht der Arbeiter. Die Einwohnerzahlen stiegen sprunghaft an. Zu den Bildern der Zeit gehören die ungleichen Wohnverhältnisse und Wohnungselend, symbolisiert durch dunkle, überfüllte Mietskasernen. Es war eng, laut, die Luft war dreckig, für Grün war kein Platz. Für die Gesundheit der Menschen waren diese Zustände katastrophal. Wer konnte, versuchte die Armut und Mangelernährung mit einem Schrebergarten vor der Stadt zu mildern. Sozialen Wohnungsbau gab es noch nicht.

Gesundes Leben in der Stadt

Als Reaktion auf die Zustände entwarf der britische Stadtplaner Ebenezer Howard das Modell der Gartenstädte. Er wollte die Trennung zwischen Land und Stadt aufheben und das Beste aus beiden Welten verbinden. Menschen sollten sowohl die Vorteile der Stadt als auch diejenigen des Landes genießen können. Die Gartenstadt war die ideale Stadt, der komplette Gegenentwurf zu den Industriestädten und räumlich gesehen vor der Industriestadt angesiedelt. Vororte wurden nach diesem Vorbild konzipiert. In England waren vor allem die sozialen Aspekte der Idee stark ausgeprägt, aber die Bewegung fand zunehmend auch in Deutschland ihre Anhänger. Der Architekt Bruno Taut, der unter anderem für seine farbenfrohen Sozialbauten-Siedlungen in Berlin (Hufeisensiedlung, Onkel-Toms-Hütte-Siedlung) bekannt ist, hat die Gartenstadt-Idee in der der Gartenstadt Falkenberg, der so genannten Tuschkastensiedlung, im Südosten von Berlin umgesetzt. Auch der Schotte Patrick Geddes war von der Idee inspiriert und er setzte sie um – wenn auch anders, als von Howard für Vorstädte geplant. Geddes war der erste Stadtplaner von Tel Aviv. Anfang des 20. Jahrhundert ließ er die wichtigsten Grundprinzipien der Gartenstadt für den Bebauungsplan der komplett neu entstehenden Stadt, geprägt von Hitze und Feuchtigkeit, erblühen. Zu jedem der seinerzeit von ihm geplanten Häuserblöcke gehörten öffentliche und private Gärten, das urbane Gärtnern in kleinen Einheiten stand im Mittelpunkt. Alternative Flächen und Räume zum Anbau von Lebensmitteln sind nötig – aber bis zur skalierbaren, urbanen Landwirtschaft dauerte es noch einige Jahrzehnte.

 

Ist urbanes Gärtnern auch urbane Landwirtschaft?

Es gab und gibt viele Facetten von urbaner Landwirtschaft, von Hof- und Gemeinschaftsgärten bis zu Dach- und vertikalen Gärten. Auch stadtnahe Anlagen gehören dazu. Die Begriffe zur Beschreibung der innerstädtischen Lebensmittelproduktion sind nicht eindeutig definiert. Die Dimension, der Zweck und das Ziel des Anbaus unterscheiden die Begriffe und entscheiden über den treffendsten Ausdruck.

Im aktuellen Sprachgebrauch wird mit Urban Gardening, also urbanem Gärtnern oder urbanem Gartenbau, meist das bezeichnet, was jede*r für den Eigengebrauch anpflanzt. Die Begriffe Urban Farming und Urban Agriculture werden als urbane oder städtische Landwirtschaft übersetzt, wenn sie überhaupt übersetzt werden. In Deutschland werden die Begriffe nahezu synonym verwendet. Sie bezeichnen die Produktion von Lebensmitteln im großen Stil. Das sind neben Früchten wie Beeren, Äpfeln oder auch Bananen und Auberginen vor allem alle Sorten von Salaten, Gemüse, Tomaten, Zwiebeln und Kräutern. Auch die Honigproduktion durch innerstädtische Bienenstöcke, die Algen-, Pilz- und Fischzucht bis hin zur Kleintierzucht gehören dazu.

Urbane Landwirtschaft soll skalieren. Das gelingt umso besser, wenn sie unabhängig von Wettereinflüssen und Schädlingen das ganze Jahr über Erträge bringt. Damit das gelingt, kommen Techniken und Methoden zum Einsatz, die zum Teil jahrhundertealt sind und jetzt mit neuen Technologien kombiniert werden. Und ab da unterscheidet sich die urbane Landwirtschaft dann auch fundamental von der traditionellen. Der Verzicht auf Erde und Saatgut ist der zentrale Unterschied und ohne Erde kann der Anbau nicht nur horizontal, sondern auch vertikal erfolgen. Die landwirtschaftlichen Systeme wachsen in die Höhe statt in die Ebene, die Erntefläche beträgt damit das Vielfache von der Bodenfläche und die Nahrung wächst sogar schneller als im Boden. Wie geht das?

Hydroponik: Die erdfreie Pflanzenzucht

Mit dem Hydroponik-System erfolgt der Anbau von Gemüse, Kräutern und Obst komplett ohne Samen und ohne Erde. Stattdessen werden die Pflanzen in Nährstofflösungen in Wasser kultiviert, das eine bestimmte Temperatur haben muss. Bei der so genannten Deep Water Culture (DWC) schwimmen die Setzlinge in nach unten offenen Plastiktrichtern, die zur Stabilisierung meist in Styroporplatten in flachen Becken stehen. Die Wurzeln hängen komplett im Wasser. Sie brauchen neben der Nährstofflösung auch Sauerstoff, der separat zugeführt wird. Durch die Bewegung des Wassers wird das Wachstum noch mal beschleunigt. Durch übereinander gestapelte Becken wird die Höhe des Raumes genutzt und die Grundfläche für den Anbau vergrößert sich um ein Vielfaches. Alternativ werden die Pflanzen in Löcher – mit oder ohne Plastiktrichter – in oft vertikal angeordnete Röhrensysteme gesteckt (Nutrient Film Technique). Die Nährlösung fließt durch die Kanäle. Die Wurzeln liegen nur zum Teil im Wasser, der andere Teil steht im luftgefüllten Bereich der Röhre. Das System ist leicht und auch ohne agrarwissenschaftliche und technische Ausbildung zu bedienen. Die Nährstofflösungen sind genau berechnet und werden je nach System auch automatisch zugeführt. Eine Art im Wasser hängendes Thermometer zeigt den Stand des Nährstoffgehalts an, so dass die Dosierung beim Nachfüllen exakt getroffen wird. Damit die Pflanzen gedeihen können brauchen sie neben Wasser und Nährstoffen auch Licht. Je nach Standort reicht dafür das Tageslicht, alternativ werden die Pflanzen künstlich beleuchtet.

Aquaponik: City-Fische helfen bei der Bewirtschaftung

Bei Aquaponik teilen sich Fische und Pflanzen ein Behältnis. Fischzucht und Hydroponik kommen hier also zusammen, „Hydroponik mit Fisch“ wird Aquaponik deswegen auch oft genannt. Je nach Fischart kann man die Fische essen. Karpfen sind da sehr beliebt. Der Wasser-Dünger für die Pflanzen entsteht durch die Ausscheidungen der Fische und den Bakterien der Nährstofflösung im Wasser. Hier braucht man mehr Kenntnis für die Handhabung, Fehler in der Dosierung des Fischfutters dürfen nicht passieren, dann gehen entweder die Pflanzen ein oder die Fische.

Vertical Farming: Ertragreiche Turbo-Landwirtschaft auf kleinem Raum

Die Systeme sind nicht neu, Hydrokultur wird schon lange in der Pflanzenzucht eingesetzt und mit Aquaponik werden seit 2.000 Jahren in China die Reisfelder bewirtschaftet. Neu ist, dass die Produktion und Ernte von agrarwirtschaftlichen Produkten wie Salat, Gemüse, Früchten und auch Fischen in großen Mengen und auch zur kommerziellen Nutzung durch Hydroponik in die Städte einzieht.

Hydroponik – ob mit oder ohne Fisch – ist perfekt für die Stadt: Einer der größten Vorteile des Systems ist die Unabhängigkeit vom Ort und von herkömmlichen Pflanz- und Erntezeiten. Außerdem bietet Hydroponik bisher die einzige Möglichkeit, schnell und ertragreich und mit wenig Know-how über Agrarwirtschaft große Mengen pflegeleicht und ohne Pestizide zu produzieren. All das auf kleinem Platz durch vertikalen Anbau, unabhängig von Erntezeiten und das bei größtmöglicher Kontrolle über die Nährstoffe.

Wenig Abfall, keine Emissionen, keine Transportwege in LKW zu (Super)-Märkten, kein gentechnisch verändertes Saatgut. Endlich ein gutes Gewissen für den Green Footprint? Vielleicht noch nicht ganz.

Wertschöpfungsketten und Kreislaufwirtschaft

Hydroponik verursacht wenig Müll. Trotzdem: Hinsichtlich der Kreislaufwirtschaft und der ökologischen Verträglichkeit gibt es bei den Systemen noch offene Fragen und an manchen Stellen schon heute Verbesserungsbedarf.

Ressource Energie:

Die Energiebilanz von Hydroponik fällt unterschiedlich aus, sie hängt vom Standort ab. In warmen Städten kann Outdoor-Hydroponik gut funktionieren. Die Anlagen müssen nur mit Planen abgedeckt und nicht vor Frost oder wochenlangem Regen geschützt werden. Etwaiger Stromverbrauch lässt sich durch Solarzellen abdecken. In unseren Breiten würden wir eher Gewächshäuser und geschlossene Indoor-Anlagen aufstellen (müssen). Am dauerhaft notwendigen Stromverbrauch für Licht und Wärme kommt Hydroponik zunächst einmal nicht vorbei.

Wertschöpfungsketten:

Zumindest bei Großanlagen werden sowohl für die Installation als auch für die Wartung der Anlagen viele Beteiligte mit unterschiedlichen Kompetenzen und unterschiedliche Produktionsmittel benötigt. Denn im Gegensatz zur traditionellen Landwirtschaft, bei der Erde, Wasser, Mensch für die Zucht und Ernte genügen können, kommen bei der technologisch-unterstützten Landwirtschaft einige Gewerke zusammen, damit der Prozess funktioniert. Unternehmen für die Hydroponik- und Aquaponik-Produktionsanlagen gehören genauso dazu, wie verlässliche Stromversorger für den Betrieb, Lieferanten für die Nährstofflösungen oder IT-Experten für den Betrieb der automatisierten Anlagen. Bei den Produktionsmitteln kommen Wassertanks, vertikale Rohranlagen, horizontale Becken, schwimmende Trichter und so fort zum Einsatz.

Materialeinsatz:

Bisher besteht ein großer Teil der Produktionsmittel aus Plastik und Styropor. Selbst wenn beides immer besser recycelt werden kann, so werden dennoch bei der Herstellung fossile Energien verwendet. Aber: Es gibt mittlerweile auch für diese Produkte Ersatzstoffe, die aus recycelten Basisstoffen und Erdöl-frei produziert werden.

Bei den Nährstofflösungen für das Wasser wird oft Kunstdünger eingesetzt. Auch dafür gibt es nun Bio-Dünger als Alternative. Häufig ist es auch schlicht so, dass die Urban Farmer nicht genau wissen, was genau in den Nährstofflösungen enthalten ist. Das könnte sich dann ändern, wenn auch für diese Bereiche von Lebensmitteln die Forderung nach transparenten Wertschöpfungsketten mit Klarheit über die genaue Zusammensetzung von Zusätzen umgesetzt wird.

Bei hydroponischer Zucht wachsen die Pflanzen ohne Stress auf, sich an die Umgebung anpassen zu müssen. Genau so entstehen aber Sekundärpflanzenstoffe, die für den menschlichen Organismus als wichtig gelten.

Und so bleiben Fragen offen. Nicht alle Menschen trauen der Nährstofflösung. Sie sind der Meinung, dass Gemüse und Früchte ohne Berührung mit Erde nicht die gleichen Nährstoffe enthalten können, wie die mit Erdkontakt. Dass Wetter zum guten und gesunden Gedeihen wichtig sei und die Vision von Wohnhäusern der Zukunft mit hauseigenem Hydroponik-Schrank und dem verfügbaren, frischen Gemüsesnack wann immer möglich nicht gesund sein könne, weil der Snack zu viel Retorte und zu wenig gute Natur beinhaltet.

Die Diskussionen sind wichtig, sie treiben die Verbesserungen, führen zu weiteren Innovationen. Groß angelegtes Urban Farming mit hydroponischen und aquaponischen Elementen und Vertical Farming steht relativ am Anfang. Die Fortschritte erfolgen schnell und enorm. Wenn Ackerflächen zu einem knappen Gut werden, kann eine Landwirtschaft in der Stadt, für die urbane Versorgung mit gesunden Nahrungsmitteln, mit Vitaminen und Mineralstoffen, die entscheidende Rolle bei der Versorgung spielen. Die Zukunft der Landwirtschaft hat ihr Wirkungsfeld durch Urban Farming durch städtische Autarkie und klimatische Unabhängigkeit in der Produktion erweitert.

Weiterlesen und weiterführende Links:

Einer der spannendsten, schlausten Artikel zur Geschichte von Urban Farming hat Kris de Decker in Englisch im Low Tech Magazine geschrieben: „Fruit Walls: Urban Farming in the 1600s“. Dringende Leseempfehlung, auch für die am Ende des Artikels angekündigten weiteren Lesetipps.